RWFs Theaterstücke




Actiontheater


„Die Verbrecher“

von Rainer Werner Fassbinder nach Ferdinand Bruckner

Die Bewohner eines Mietshauses sind in so komplexe Beziehungen zueinander verstrickt, dass Verbrechen aus ihnen resultieren: Die eifersüchtige Geliebte des Kellners Tunichtgut ist Ernestine. Sie gaukelt ihm eine Schwangerschaft vor. Dazu verspricht sie der armen und mit einem Philosophiestudenten liierten Nachbarin Olga, deren Kind nach der Geburt als das ihre auszugeben. Im Zuge der Untreue des Kellners mit der Schankwirtin Kudelka bricht sie dieses Versprechen. Infolge dessen begeht Olga Monate nach der Geburt aus Verzweiflung einen Doppelselbstmordversuch mit dem Baby, den sie überlebt. Sie wird verurteilt. Statt Ernestine Puschek, die ihre Rivalin Kudelka im Affekt erwürgt hat und deren versuchte Kindsunterschiebung als verständlich gebilligt wird, wird der Kellner Tunichtgut zum Tode verurteilt. In einem anderen Erpressungsversuch wird der Täter freigesprochen, ans Licht kommt jedoch der Verstoß eines Zeugen gegen den § 175. Die fragwürdige und voreingenommene Justiz rückt ab von tatsächlichen Zusammenhängen und Motiven und hinterlässt tiefen Zweifel an den Gesellschaftszuständen. Fraglich wird, ob das Verbrechen nicht in der allgemeinen gesellschaftlichen Entfremdung begründet ist.


„Zum Beispiel Ingolstadt“

 von Rainer Werner Fassbinder nach Marieluise Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“

Das unerfahrene Dienstmädchen Berta aus dem Haus des Ingolstädter Geschäftsmannes Unertl zieht die Aufmerksamkeit des erfahrenen, aber etwas sadistischen Pioniers Karl Lettner derjenigen des siebzehnjährigen Fabian Unertl vor. Fabian nutzt die Bekanntschaft zum Feldwebel im Bierzelt, um Karl Lettner schikanieren zu lassen, was Berta noch anhänglicher macht, sie hält zum Karl. Herr Unertl dagegen verbietet ihr den Umgang mit den Soldaten. Außerdem erfährt sie von dritter Seite, Karl habe mehrere Geliebte und auch schon Nachwuchs.
Fabian wird von einigen Soldaten misshandelt und erpresst, eine Aussage über Holzdiebstähle zu machen. Alle werden Zeuge eines Unfalls an der Donau, doch keiner, schon gar nicht Karl, bewahrt den unbeliebten Feldwebel vor dem Ertrinken.

Fabian trifft das stellungslose Dienstmädchen Alma, die ebenfalls von den Soldaten enttäuscht wurde und freundet sich mit ihr an. Bevor die Pioniere singend nach Küstrin abrücken, zeigen Berta und Karl vor aller Augen ihre Verbundenheit. Berta hätte gerne ein liebevolles Verhältnis gehabt, doch ihr Wunsch bleibt einseitig.

Eine Gruppe des Action-Theaters brachte mit Zum Beispiel Ingolstadt  die Fassung von Marieluise Fleißers Pioniere in Ingolstadt von 1928 auf die Bühne des Büchner-Theaters, wobei sie einige Mitglieder von dessen Ensemble in die Produktion einbanden. Einer der Schauspieler war ein Dramatiker, der mit seinen Dialektstücken das westdeutsche Theater in den frühen 1970er Jahren in Brand setzen sollte: Franz Xaver Kroetz. Zu dieser Zeit war Kroetz ein begeisterter Formalist und mied den bayerischen Dialekt der Fleißer. Es könnte also sein, dass Fassbinder einer der Katalysatoren von Kroetz’ Ruhm war.



„‎Katzelmacher‭“‬

 von Rainer Werner Fassbinder



„Eigentlich hätte dies ein Stück über ältere Leute werden müssen.‏ ‎Aber es sollte am‭ ‘‬antitheater‭’ ‬realisiert werden.‭ ‬Jetzt sind sie alle jung.‭“ (‬Rainer Werber Fassbinder‭)
Durch diesen Aspekt erhält das Stück etwas Überzeitliches.‭ ‬Die verschiedenen Beziehungen und Unterwerfungen in Liebe und Freundschaft der gezeigten Paarungen inmitten eines langweiligen‭ ‬Vorstadt-Alltags finden Einigkeit im Misstrauen gegen den griechischen Gastarbeiter Jorgos‭ – ‬im Stück tritt er sofort auf,‭ ‬im Film wird er in der ersten Hälfte nur thematisiert.‭ ‬Er wird von der Wundertüten-Unternehmerin Elisabeth eingestellt,‭ ‬er wohnt bei ihr zur Untermiete,‭ ‬die zieht sie ihm wieder vom Lohn ab,‭ ‬und er muss sich‭ ‬auch noch das Zimmer mit Elisabeths Ex-Partner‭ ‬Bruno‭ ‬teilen.‭ ‬Dies fördert nicht nur dessen Misstrauen über die Rolle des gesellschaftlichen Neulings,‭ ‬sondern auch das des örtlichen Umfelds.‭ ‬Da er ursprünglich für einen Italiener gehalten wird,‭ ‬bleibt das entsprechende Schimpfwort‭ ‬Katzelmacher‭ ‬an ihm haften,‭ ‬aber Hauptsache,‭ ‬er kurbelt die deutsche Wirtschaft an.‭ ‬Hier bedingen sich der in den Köpfen noch festsitzende‭ ‬Faschismus und kleinbürgerlicher Kapitalismus gegenseitig.

Die Beziehungsthemen,‭ ‬Träume und Entwicklungen,‭ ‬werden‭ ‬wie auf einer Simultanbühne verhandelt:‭ ‬in den Wohnräumen der Protagonisten,‭ ‬im Freien und‭ ‬im Wirtshaus.‭ ‬Die Rhythmisierung spiegelt die Eingefahrenheit der Beziehungen,‭ ‬die gesellschaftliche Enge,‭ ‬die einen alles kontrollierenden Druck auf ihre Mitglieder ausübt.‭ ‬Das konforme Nur-Untereinander bricht auf,‭ ‬als sich Marie zu Jorgos,‭ ‬dem Außenseiter,‭ ‬hingezogen fühlt.‭ ‬Dennoch beziehen sich die Erwartungen ihrer Dialoge nicht aufeinander,‭ ‬sie sprechen vielmehr aneinander vorbei.‭ ‬Gunda wird gehänselt,‭ ‬weil sie keinen kriegt,‭ ‬da verleumdet sie Jorgos des Übergriffs auf sie.‭ ‬Jorgos wird von den Männern verprügelt,‭ ‬da er in ihre Gesellschaft eindringt.‭ ‬Trotz der Belästigungen schmiedet er mit Marie Pläne über eine gemeinsame Fahrt nach Griechenland.‭ ‬Als ihn Marie wegen seiner Frau und seiner zwei Kinder befragt,‭ ‬gerät er jedoch in Verlegenheit.‭ ‬Erst auf Elisabeths Ankündigung,‭ ‬neben ihm einen Türken einzustellen,‭ ‬reagiert er,‭ ‬indem er in eine andere Stadt ziehen will.‭ ‬Der sehr formale‭ ‬Dialog‭ ‬prägt das‭ ‬eher handlungsarme Stück,‭ ‬wie um zu zeigen,‭ ‬dass die Beziehungen keinen Raum für Gefühle und Worte zugleich‭ ‬lassen.‭




antiteater


„Ajax“

von Rainer Werner Fassbinder und Peer Raben nach Sophokles

Athene lenkt Ajax’ tödlichen Zorn auf das Gefolge von Odysseus um. Sie spiegelt ihm die Personen vor, während Ajax wie in Raserei eine Viehherde abschlachtet. Dem Odysseus erläutert sie das Geschehen. Ajax und seine Frau Tekmessa erflehen den Tod als Erlösung aus dem Wahnsinn. Im Stück des Sophokles geht es um die Entladung von Wut und Gewalt an Stellvertretern.
Inszeniert als bierseliges Treffen von Soldaten in Bundeswehruniformen an ihrem Stammtisch in einer Kneipe, ging „Ajax“ ziemlich daneben. Den in der ‚Witwe Bolte’ gespielten Text zu beurteilen, ist nicht möglich, da er verloren gegangen ist. Die Standardausgabe basiert auf einem Text, den Fassbinder überarbeitete und den er in Proben für eine Produktion in Basel mit Margit Carstensen weiterzuentwickeln hoffte.

„Ajax“, eine Fassung der Tragödie von Sophokles, wurde zusammen mit „Der amerikanische Soldat“ gezeigt, einem kurzen Stück, das Horst Söhnlein im Januar 1968 im Action-Theater abgesagt hatte.




„Der amerikanische Soldat“

von Rainer Werner Fassbinder nach dem Film „Murder by Contract“ von Irving Lerner

Das Schauspiel beleuchtet die  tägliche Routine des anonymen Chicagoer Profikillers Vinz, der die meiste Zeit des kurzen Stücks mit dem Warten auf seinen nächsten Auftrag verbringt. Zur Kontrolle während der tagelangen Vorbereitungszeit schickt der Auftraggeber zwei Männer: Chris stört mit seiner Nervosität, indem er Vinz über dessen Job ausfragt, Tony hat eine vollständig stumme Rolle. Die Spannung entlädt sich in dem Moment gegen Chris, als der eiskalte Killer elementare Schwächen in der Vorbereitung zeigt. Das Opfer ist eine Frau, der Killer verlangt auf einmal mehr Geld: Vinz erschießt Chris, Tony erschießt Vinz, und das Stück endet damit, dass Tony seine Pistole Chris in die Hand drückt.
Wie im Programmheft dargelegt wird, ist die Handlung von Irving Lerners Film „Der Tod kommt auf leisen Sohlen“ übernommen, sie ist jedoch eher nebensächlich im Vergleich zu den Ritualen, von denen der Text durchzogen ist. Vinz trainiert in der Inszenierung während des gesamten Stücks für den Schluss, erzählt wird seine tägliche Routine: Unermüdliches Üben und endloses Warten bestimmen seinen Tagesablauf. Mittelpunkt ist seine Vorbereitung auf den Mord in der Chicagoer Unterwelt. Das Stück nimmt indirekt Bezug auf Vietnam, wo Soldaten unbekannten Opfern gegenüberstanden, wo sie warteten und tagelang trainierten, bis der Befehl schließlich kam.  



„Die Bettleroper“

von Rainer Werner Fassbinder nach John Gay

Die Originalfassung versuchte Fassbinder bei einiger Modernisierung ohne den Einfluss von Bertolt Brechts und Kurt Weills „Dreigroschenoper“ beizubehalten. Er übernahm die Haupthandlung  mit der Heirat von Polly Peachum und dem Straßenräuber Macheath gegen den Willen ihrer Eltern. Macheaths Vorliebe für Prostituierte und für Lucy Lockit, die Tochter des Gefängniswärters, die ihn in Konflikt mit Polly bringt, wird ebenfalls gezeigt.
Fassbinders Mecki  bleibt jedoch vom Schafott verschont, aber er kommt am Schluss nicht mehr vor, sondern sitzt in den drei letzten Szenen im Gefängnis. Seine Abwesenheit führt bei den restlichen Figuren zu Einsamkeit und Verzweiflung, und am Ende
bellen alle wie Hunde.
Der politische Hintergrund wurde verändert und Gays ausgedehnte Satiren auf das 18. Jahrhundert weichen dem Spott auf Barhocker-Bolschewismus und romantische Versuche der Gründung einer Kommune.
Für die Musik sorgte ausschließlich Peer Raben. Der Pop-Stil der Musik spiegelte die eher entspannte und leichte Stimmung des Stückes wider, ein Novum für das antiteater. In der ‚Witwe-Bolte’-Produktion spielten drei Personen sieben Instrumente. Harry Zöttl, ein neues Mitglied der Gruppe, spielte Schlagzeug. Zöttl, seit dem Film „Katzelmacher“ umbenannt in Harry Baer, sprang ein, als Ralph Enger, die Originalbesetzung, krank wurde.




„Pre-Paradise sorry now“

von Rainer Werner Fassbinder

Fassbinder stellt die englischen Moor-Morde von 1963–65 ins Zentrum, bringt die sadistische Ermordung von Kindern aber in einen polemischen Zusammenhang mit Unterdrückung und Ausbeutung. ‚Ian Brady’ und ‚Myra Hinley’ sind Fassbinders Instrumentarium, um das Wesen von Gewalt und Grausamkeit in der gegenwärtigen
Gesellschaft zu erkunden. Bewusst verändert Fassbinder den echten Namen Hindley in Hinley  und den eines ihrer jungen Opfer, Kilbride, in Killbridge, um geschickt anzudeuten, dass er sich in diesem Stück nicht mit realen Ereignissen befasst. David Smith, Hindleys Schwager, der die Polizei über die Verbrechen des Paares informierte, wird durch eine Figur namens Jimmy ersetzt. Gleichwohl führte eben diese Thematik bei einer Tournee des Stücks durch Großbritannien im Jahr 1972 zur Absage der Aufführungen in Manchester und Salford – an Aufführungsorten, die dem Moor selbst so nah waren, war das Publikum nicht bereit für dieses Stück.

Raben hatte Fassbinder um ein Stück gebeten, das allein durch die Darstellung realisierbar sein sollte, ein Stück, das keinen eigenen Wert als Lesestück haben sollte. Woraufhin Fassbinder Raben, der die Premiere inszenierte, nichts weiter als vier Szenengruppen aushändigte, die in jeder beliebigen Reihenfolge inszeniert werden konnten, so lange die Regisseure „die Dialoge Ian/Myra in den Mittelpunkt der Dramaturgie stellen“.

An der Originalproduktion waren fünf Darsteller beteiligt, die all die vielen im Textbuch aufgeführten Rollen übernahmen. Zusätzlich spielte Fassbinder den Erzähler in den Szenen, die aus der Zeitschrift konkret übernommen worden waren (Fassbinder entnahm diese Abschnitte beinahe wortwörtlich der deutschen Übersetzung von Emlyn Williams’ Buch Beyond Belief, der Geschichte Ian Bradys). Die beiden Untertitel des Stücks, „54 Szenen zugunsten einer zukünftigen Anarchie“ und „Das grausame Spiel von Erhebung und Demut – Die Liturgie eines Verbrechens“ – beide wurden in allen gedruckten Fassungen weggelassen –, verweisen jeweils auf den politischen (eine Welt
ohne Kapitalismus) und den fiktionalen Charakter des Stücks.
Die Bühne bestand aus fünf Ölfässern, eines pro Darsteller, eine Müllhalde menschlicher Beziehungen.



„Anarchie in Bayern“

von Rainer Werner Fassbinder

„Anarchie“ ist eine Satire über die Schwierigkeiten, sich nach einem gravierenden gesellschaftlichen Umbruch mit dem Leben zu arrangieren. Die anarchistische
Revolution lässt sich in Bayern mühelos durchführen und ist in der dritten von 22 Szenen
bereits vollendet: Bayern spaltet sich von der Bundesrepublik Deutschland
ab und erklärt seine Unabhängigkeit. Das Leben in der neuen Gesellschaft gestaltet sich weit schwieriger, und das Stück handelt hauptsächlich von den Einstellungen und Denkweisen des alten Systems, repräsentiert von der Familie Normalzeit, angesichts einer neuen Gesellschaftsordnung. Mit dem ‚langen Marsch’ wird der Studentenführer Rudi Dutschke (und nicht Mao) zitiert und seine Überzeugung vorgetragen, eine dauerhafte gesellschaftliche Revolution könne sich nur im Verlauf der Zeit vollziehen und nicht mit Gewalt oder durch ein plötzliches Zuviel an Legislative erzwungen werden. Der Text ist unvollständig. In der veröffentlichten Fassung fehlen die letzten beiden Szenen, die »Okkupationsrede«, die Fassbinder selbst gesprochen hatte, und der »Schluß«. Dieser ist jedoch in Joachim von Mengershausens Dokumentation Ende einer Kommune enthalten: Die Abfolge kreist um die ritualisierende Wiederholung des englischen Mantras „and – go – stop – kill – freedom“.

Da es keinen nennenswerten Szenenaufbau gab, war die große Bühne des Werkraums in sieben Abschnitte unterteilt, um die Ortswechsel deutlich zu machen. Musik und Tanz wurden eingesetzt, um die Verbindung zwischen dem Schund der Populärkultur
und der Engstirnigkeit der Gestalten auf der Bühne anzudeuten.



„Gewidmet Rosa von Praunheim“

von Rainer Werner Fassbinder nach Rosa von Praunheims Film „Rosa Arbeiter auf goldener Straße“

Die kurze Zehnminutenproduktion zeigte zwei Ostdeutsche, die in Westberlin am alltäglichen Konsumverhalten sämtliche Illusionen verlieren. Die kurze stumme Darbietung war von Fassbinder inszeniert worden, unterlegt mit Musik von Wolfgang Amadeus Mozart und Elvis Presley.




‏„‎Werwolf‭“

von Rainer Werner Fassbinder und Harry Baer

Die Szenenaufteilung wie auch die Personenbenennung mit Buchstaben von A bis E,‭ ‬die nicht charakteridentisch bleiben,‭ ‬erinnert in ihrer zufällig wirkenden Zusammensetzung an die ebenfalls offenen Szenenfolgen von‭ ‬„Pre-Paradise sorry now‭“‬.‭ ‬Im ersten Stückdrittel wird ein‭ ‬87-facher Massenmörder als Person eingeführt,‭ ‬von dem man sich erzählt,‭ ‬er nenne sich Gott und habe das Blut eines Wolfes getrunken.‭ ‬Die Dialoge führen Herren und Knechte,‭ ‬eine Bäuerin und Mägde ein,‭ ‬es gibt Klagen über ungerechte Behandlung und karges Entgelt.‭ ‬Es kommt die Rede auf Franz,‭ ‬den Sohn einer Magd und des Hofherrn,‭ ‬der aus Niklashausen stammt.‭ ‬Der Pfarrer und die Mädchen mochten ihn,‭ ‬aber er hatte viele Anpassungsprobleme.‭ ‬Franz beklagt sich bei der Mutter über den stets abwesenden Vater,‭ ‬die Mutter versucht ihren Sohn durch Anerkennung zu stärken.‭ ‬Nachfolgend gibt es eine Ehebruch-Szene in der Kirche.‭ ‬Die Vermutung legt nahe,‭ ‬es handle sich um den Hofherrn mit seiner Schwiegertochter.
Die Taten des noch immer unbekannten Mörders begründet eine Regieanweisung:‭ „‬In einer Gemeinschaft von vielen,‭ ‬deren Sein dumpf und in Prozessen vonstatten ging,‭ ‬wollte er nicht mehr stumpf sein und ausgebeutet.‭“ „‬Es waren die Köpfe,‭ ‬in die er ein Loch hineinschlug,‭ ‬um ein Verhältnis zu haben mit einem anderen Menschen.‭“
Der Gemeindeschreiber Licht gibt zu Protokoll,‭ ‬den Franz Wals aus Niklashausen gesehen zu haben,‭ ‬wie er wie ein Wolf ein Mädchen am Feld hinterrücks mit einem Stein erschlagen hat und das Blut aus ihrer Kopfwunde trank.‭ ‬Es fogt zudem eine pädophil angedeutete Szene zwischen dem Mörder und einem Buben.‭ ‬Das Schlusswort des gefassten Mörders ist:‭ „‬Ich schau nit.‭ ‬Weil,‭ ‬wenn ich schau,‭ (‬was ich seh‭)‬,‭ ‬das sieht mich.‭ [‬...‭]‬Die heilige Mutter Gottes,‭ ‬die ist bei mir.‭ ‬Wer anders kommt gar nicht hin an mich.‭“

Den Keim für‭ ‬Werwolf‭ ‬bildete die Geschichte eines jungen Mannes,‭ ‬der im Mittelalter zum Massenmörder geworden war.‭ ‬Aufklärerischer Antrieb des Schreibens war es,‭ ‬die Geschichte in einen Kontext zu bringen.‭ ‬Fassbinder formulierte es so:‭ "‬wir versuchen jetzt ganz klar zu machen,‭ ‬warum wir uns vorstellen,‭ ‬daß im‭ ‬15.‭ ‬Jahrhundert jemand zum Mörder wurde.‭ ‬Das heißt,‭ ‬zu einer Zeit,‭ ‬in der man also nicht durch Massenmedien wie Fernseher oder Illustrierte oder so zum Mörder wird,‭ ‬sondern möglicherweise auch als gesellschaftlicher Protest‭"‬.‭ ‬Die dialektische Untersuchung vollzog sich in der freien Montageform von‭ ‬„Pre-Paradise‭“‬.‭ ‬Das Programmheft hält fest,‭ ‬dass die Idee am‭ ‬12.‭ ‬November‭ ‬1969‭ ‬diskutiert wurde,‭ ‬dass das Stück am‭ ‬2.‭ ‬Dezember fertig war und dass die Proben danach so richtig begannen.‭ ‬Die Inszenierung hatte wegen einer lukrativen Weihnachtsreservierung in der‭ ‬‚Witwe Bolte‭’‬ am‭ ‬19.‭ ‬Dezember‭ ‬1969‭ ‬im Forum-Theater in Berlin Premiere.‭ ‬Dass die Produktion Anfang Februar‭ ‬1970‭ ‬für ein Wochenende in München und noch dazu in den Kammerspielen gastierte,
deutet darauf hin,‭ ‬dass die theatralischen Verbindungen des antiteaters zu seiner Heimatstadt und zu seiner Stammspielstätte so gut wie gekappt waren.
Der ausgiebige Einsatz ritualisierter Bewegungen und Gebete vor dem Hintergrund von Szenen,‭ ‬die nicht den gleichen thematischen Zusammenhalt besaßen wie zuvor‭ ‬„Pre-Paradise‭“‬ oder‭ ‬„Katzelmacher‭“‬,‭ ‬sorgte unter den Zuschauern für Irritation.‭ ‬Zeitgleich bereitete Fassbinder sein Spielfilmprojekt‭ ‬„Die Niclashauser Fart‭“‬ vor,‭ ‬das in der gleichen Zeit angesiedelt ist,‭ ‬sich aber der Biografie eines Schäfers widmet,‭ ‬der sich‭ ‬mittels‭ ‬religiöser Motive bei einer Adligen einnistet und einen Volksaufstand auslöst.‭




„Blut am Hals der Katze“

von Rainer Werner Fassbinder

„Blut“ entwickelte die Form von „Katzelmacher“ und „Pre-Paradise“ weiter, eine Montage zumeist unzusammenhängender Szenen. Doch nun hatte Fassbinders Arrangement eine klare Struktur, die im Text sorgfältig verwirklichte, was er sonst in der Aufführung zu erreichen suchte. Das Stück handelt von Sprache. Phoebe Zeitgeist, ein Zitat einer damals aktuellen Comic-Figur, ist eine Außerirdische, die auf die Erde gekommen ist, um etwas über Demokratie zu lernen. Doch wie es die einführende Regieanweisung ausdrückt: „Phoebe Zeitgeist hat aber Schwierigkeiten, sie versteht die Sprache der Menschen nicht, obwohl sie die Worte gelernt hat“.
Bei ihren Recherchen begegnet Phoebe neun Gestalten, die verallgemeinernde Namen wie etwa Das Modell, Der Polizist oder Die Frau des toten Soldaten tragen. Die ersten  18 Szenen enthalten je zwei Monologe von jeder Figur, einen alleine und einen mit Phoebe als Beobachterin. Die Monologe sind hauptsächlich biografisch und erzählen von
Leiden, von Unterdrückung oder manchmal von beidem.
Der zweite Szenenabschnitt umfasst weitere 36 kurze Szenen, in denen jedes Mitglied des Ensembles in einem Zwiegespräch auf die anderen trifft, wobei sich aus der Reihenfolge kein Muster ergibt. Phoebe ist in allen Szenen anwesend und entnimmt jedem kurzen Austausch bestimmte Zeilen, die sie dann am Ende der Szene wiederholt, um neue Sätze
daraus zu bilden.
Die von den neun Personen gespielten wechselnden Rollen machen die Vorstellung von eigenständigen Identitäten zunichte, da die Schauspieler sich eine ganze Reihe von Persönlichkeiten zulegen müssen, die durch die Verhältnisse definiert sind. Der dritte Abschnitt des Stücks spielt auf einer Party. An verschiedenen Stellen der langen  Einzelszene setzt Phoebe Sprachblöcke ein, die sie während des zweiten Teils zusammengestellt hat. Ihre Äußerungen rufen zunächst Neugier hervor, letzten
Endes jedoch Gleichgültigkeit und die Weigerung, sich mit der Außerirdischen zu beschäftigen.
Am Ende der Party verbeißt sie sich in jeden einzelnen Gast. Sobald alle am Boden zusammengeschrumpelt sind, rezitiert die Vampirin eine bedeutsame
Passage aus Hegels „Wissenschaft der Logik“.




Bremen


„Das Kaffeehaus“

von Rainer Werner Fassbinder nach Carlo Goldonis „Il Bodega del Café“

Die Handlung spielt in Venedig und stellt ins Zentrum Don Marzio, einen neapolitanischen Edelmann, durch dessen Geklatsche Situationen entstellt und andere Figuren hintergangen werden. Die verschiedenen Handlungsstränge spielen vor dem Hintergrund des titelgebenden Kaffeehauses mit seinem Besitzer Ridolfo sowie dem benachbarten Casino, das von Pandolfo betrieben wird. Das finanzielle Thema der Gewinne und Schulden zieht sich durch die ganze Komödie. Marzio wird von den anderen Personen gezwungen, Venedig zu verlassen. In einem klaren Moment erkennt Marzio die Tragweite seiner Verleumdungen. Die Bedeutsamkeit des Geldes wird durch einen komischen und anachronistischen Kunstgriff hervorgehoben: Bei jeder Nennung der italienischen
Währung überträgt der jeweilige Gesprächspartner diese automatisch in Dollar, Pfund und Mark. Dieses Verfahren kommt insgesamt 41-mal im Laufe des Stücks vor.

Bei Goldoni ist der junge Bedienstete Trappola eine Nebenrolle, Fassbinder macht aus
ihm die zentrale Figur Trappolo, ehemals Goldgräber in Arizona, der nach Venedig zurückgekehrt ist, um ein einfacheres Leben zu führen. Er ist ein Underdog in dieser edlen Gesellschaft, eine einfache Helfernatur, der den geschliffenen Betrügern zum Opfer fällt.
Er hilft dem unverbesserlichen Spieler Eugenio. Marzio eignet sich auf betrügerische Weise sein Geld an. Pandolfo hofft, dass Eugenio sein Partner im Casino wird, da er möchte, dass Eugenios Frau dort als Animierdame arbeitet. Vittoria käme dieser Bitte gerne nach, ihr spielsüchtiger Gatte ist aber aus vorgeblich moralischen Gründen dagegen. Am Schluss des Stücks wird Pandolfo paradoxerweise von der Kerkerhaft verschont, da er so viele Schulden bei der Stadt Venedig hat, dass diese es sich nicht leisten kann, ihn einzusperren. Sein ironisches Happyend wird noch verstärkt, als Eugenio seiner Frau die Erlaubnis erteilt, ihre Rolle im Casino zu spielen, da der Preis stimmt.
Bei Goldoni versöhnt sich der mit der ehemaligen Prostituierten Lisaura fremdgehende Leander mit seiner Frau Placida dank des gütigen Ridolfo. Zwar geschieht mit dem Paar am Ende in Fassbinders Fassung das gleiche, doch die Versöhnung ist auf gegenseitige Abhängigkeit gegründet und nicht auf Liebe.



„Showdown“

für Rainer Werner Fassbinder

Am 1. November 1969 offerierte Kurt Hübner seinem neuen Regisseur ein eintägiges Festival: „Showdown“. Den englischen Namen hatte Fassbinder ausgewählt. Der bis zum Bersten gefüllte Tag begann um 11 Uhr vormittags mit Fassbinders erstem Film „Liebe ist kälter als der Tod“, der in einem kleinen Kino gezeigt wurde. Danach, um 13 Uhr, führte das antiteater in Bremens Großem Haus „Anarchie in Bayern“ auf. Die Verfilmung von „Katzelmacher“ kam um 15.30 Uhr auf die Leinwand, um 17.30 Uhr folgte eine Diskussion im Theater, und um 20 Uhr schloss eine Aufführung des Bremer „Kaffeehauses“ das Spektakel ab.



„Das brennende Dorf“

von Rainer Werner Fassbinder nach Lope de Vega

Im Original wird das Dorf Fuente Ovejuna terrorisiert durch die Willkür seines Herrschers, des Kommandanten. Kurz nach ihrer Hochzeit entführt er Laurentia, eine Einheimische, die seine Annäherungsversuche zurückweist, und sperrt sie und ihren frisch angetrauten Ehemann Frondoso ein. Dieser Affront bringt das Fass zum Überlaufen und führt zur Ermordung des Kommandanten. Als der spanische König Ferdinand den Vorfall untersucht, will niemand den Mord gestehen. Auf die Frage, wer den Kommandanten umgebracht habe, antwortet das Dorf wie aus einem Munde: „Fuente Ovejuna“. Überwältigt von der Solidarität der Dorfgemeinschaft begnadigt der König das ganze Dorf.

Wie bereits bei Fassbinders Bearbeitung von „Iphigenie“ zu sehen war, war die Großherzigkeit der Mächtigen kein Thema, das er so einfach akzeptieren konnte. In dieser Bearbeitung war er nicht weniger kritisch, seine größte Veränderung des Plots findet sich am Schluss. Dem spanischen Hof, der von Fassbinder als durchweg unberechenbar, unseriös und herablassend gegenüber den Untertanen gezeichnet wurde, werden die gemeinschaftlichen Täter übergeben. Doch anstatt den Willen des Dorfes
zu bewundern, ordnet der König dessen kollektive Exekution an. Die Dorfbewohner rücken auf den Hof vor und verspeisen das königliche Paar sowie dessen Entourage bei lebendigem Leib.

Die Bühne bestand aus vier Ebenen. Der spanische Hof saß die ganze Zeit im hinteren Bereich der Bühne. Vor diesem spielte ein Orchester die umfangreiche musikalische
Partitur. Der Raum zwischen Orchester und Bühnenrand war für die Szenen außerhalb des Hofes reserviert, und über eine Treppe, die sich vom Orchesterbereich aus erhob, konnten sich die Dorfbewohner in der letzten Szene dem Hof nähern. Den Bühnenhintergrund bildete ein auf den Kopf gestelltes Barockbild, bei dem sich – ein Hinweis auf die kosmische Disharmonie – der Himmel dort befand, wo eigentlich die Erde sein sollte. Zwei riesige Heiligenstatuen flankierten die Bühne, jede hielt ein Schwert und ein Buch.
Raben entschied, das Stück im opernhaften Stil zu inszenieren. Seine Fachkenntnis über diese Form bedeutete, dass diese Entscheidung keine Laune war, und der Einsatz von Musik und eines Orchesters trugen dazu bei, dem Stück einen artifizielleren Anstrich zu geben. Die Musik bildete einen Kontrast zur historischen Zeit auf der Bühne, und dementsprechend orientierte sich der Komponist an Hindemith und anderen Vertretern der Moderne, um die anachronistische Spannung zu verstärken. Mit den ausgewählten Schauspielern war Raben zufrieden, wenn er auch der Ansicht war, dass vielen Bremer Profis ein körperlicher Stil versagt blieb. Er hatte sich eine »leichte Übertreibung” gewünscht, die zum Grundtenor der Produktion passte. Die verschiedenen Bühnenbereiche verliehen der Produktion eine zusätzliche Dimension, da der Hof durchgängig auf der Bühne präsent war und als Beobachter der Geschehnisse fungierte.




„Bremer Freiheit“

von Rainer Werner Fassbinder


Der erste Ehemann Miltenberger misshandelt Geesche vor den Augen ihrer Kinder und seiner Freunde. Die repressive Beziehung hat aber auch eine sexuelle Dimension. So lautet Geesches Anfangszeile „Ich will mit dir schlafen“. Dass Geesche sexuell die Initiative ergreift, ist ebenso inakzeptabel wie ihre Fähigkeit zur Hinterfragung ihres Lebens, ihrer Wünsche und Ziele. Geesche vergiftet zuerst ihren Mann und dann die Mutter, da diese Gottesfürchtigkeit und Unterordnung unter den Mann fordert. Gottfried, der sie lange schon liebt, flieht ihre Beziehung, er will in der gesellschaftlich normierten, dominanten Familienrolle mit eigenen Kindern sein. Geesche vergiftet ihre Kinder aus erster  Ehe, die sie einschränken. Gottfried kehrt zurück und will das gemeinsame Kind nicht anerkennen. Schwer von ihrem Gift erkrankt, heiratet er Geesche und stirbt. Desgleichen der Vater, ein Gläubiger und Geesches Bruder. Ihrer Freundin Luisa teilt Geesche noch mit: „Ich habe dich davor bewahren wollen, das Leben, das du führst, noch weiter führen zu müssen.“, bevor auch diese stirbt.

Fassbinder schrieb dieses bürgerliche Trauerspiel nach Dokumenten, die das Leben und den öffentlichen Tod der Bremerin Geesche Gottfried betrafen, die systematisch 15 Menschen vergiftet hatte. Patriarchat und Kirche durchdringen die Sozialmoral des Stücks. Der Dramaturg Burkhard Mauer schrieb, das Theater interessiere, wie „Aufklärung und bürgerliche Mäßigung“ bei der letzten öffentlichen Hinrichtung in der Stadt im Jahr 1831 so rasch in Vergessenheit geraten konnten. Das hieraus entstandene Stück trug den polemischen Titel „Bremer Freiheit“, da Fassbinder die Ereignisse als Geesches „Drang nach Freiheit und Selbstverwirklichung“ interpretierte.




Frankfurt


„Die bitteren Tränen der Petra von Kant“

von Rainer Werner Fassbinder

Die Modedesignerin Petra von Kant hat seit drei Jahren breiten Erfolg mit exklusiven Entwürfen für eine Kaufhauskette. Seit dieser Zeit entfremdet sich ihr Mann von ihr. Sie reicht die Scheidung ein. Eigentlich arbeitet die stumm-diskrete Hausangestellte Marlene als Assistentin die Entwürfe aus. Petra von Kant formt sich ihre eigene Welt. Ein entscheidender Teil der Kommunikation läuft auch über das Telefon: Aussagen werden entstellt oder geschönt.
An zwei Tagen mit je einem halben Jahr Abstand umkreist das Drama den Freiheitsdrang und Bindungswunsch der Petra von Kant, die sich nach der Trennung von ihrem dritten Mann sofort in die nächste Abhängigkeit  in ihrer Arbeits- und Liebesbeziehung zu einer unterstützungsbedürftigen, aber selbstbewussten jungen Frau begibt. Petra von Kant wird von dieser, ihr Name ist Karin Thimm, verlassen und verliert im Emotionsausbruch die Selbstkontrolle. Unter den Augen von Freundin Sidonie, ihrer Mutter Valerie, ihrer noch nicht erwachsenen Tochter Gabriele und ihrer unterwürfigen Bediensteten bahnt sich der Ausbruch  - durch Alkohol katalysiert  - den Weg vom Selbstbetrug zum öffentlichen Bekenntnis ihrer Abhängigkeit.

Fassbinders Stück verhandelt zentral die Angst vor Verbindlichkeit und Abhängigkeit. Die verdeutlicht sich auch am Verhältnis zur Tochter, die ganzjährig im Internat lebt. Letztlich führt die Unfähigkeit, sich dieser Angst zu stellen, in die emotionale Einsamkeit.
Petra von Kant sagt zu ihrer langjährigen Freundin Sidonie von Grasenabb: „Schau, du bist zusammen mit einem Menschen [...] und du möchtest etwas sagen, aber du hast Angst. Du möchtest zärtlich sein, aber wieder hast du Angst. Du hast Angst davor, einen Punkt zu verlieren, das heißt der Schwächere zu sein.“ Ihr Ideal war eigentlich anders: „Wir wollten keine dumpfe Ehe führen [...] Wir wollten immer neu entscheiden, immer wach sein, immer...frei.“
Sie sucht das neue Glück in einer Beziehung zu einer bisexuellen jungen Frau, Karin Thimm, die ihrer Familientragödie nach Australien entfloh und nach Jahren einen Neuanfang in Deutschland macht. Sie ist angewiesen auf Protektion. Karin ist träge, schön und für  Exzessives offen. Sie nutzt Petras Kontakte in die Modewelt für sich und lässt ein Abhängigkeitsverhältnis entstehen.

Das Stück handelt von zutiefst menschlichen Ängsten, die aus der großen Sehnsucht nach menschlicher Bindung rühren. Es handelt von emanzipatorischen  Entwürfen, die Freiheit und Unabhängigkeit versprechen und dennoch vor Selbstbetrug und Verzweiflung nicht gefeit sind. Abhängigkeit (emotionaler wie ökonomischer Art) und die grausamen Folgeerscheinungen entlarvt das Stück als geschlechterunabhängiges Phänomen. Fassbinder bietet keine Lösung an, um diesem Phänomen zu entkommen.





„Der Müll, die Stadt und der Tod“

Von Rainer Werner Fassbinder nach dem Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ von Gerhard Zwerenz

Roma B. ist die zentrale Frauenfigur im Stück. Eine erschöpfte, hustende Hure, die keinen Freier mehr anzieht, aber unter dem stärksten Druck steht, ihrem gewalttätigen Zuhälter Franz B. Geld zu verschaffen, der es stets verspielt. Der Name ist nach der Schauspielerin Roma Bahn gewählt, die in der Uraufführung von Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ die Polly spielte. Romas B.’s Vater im Stück ist Herr Müller, ein Täter aus der NS-Zeit, dessen bedrohlich antisemitischen Äußerungen durch sein paradoxes Berufsbild als Transvestit gebrochen werden: Ein Mann, der in andere Häute schlüpft. Der zweite drastische Antisemit im Stück trägt den Namen Hans von Gluck und ist ein Kunde von Roma B.

Der reiche Jude, ein namenloser Frankfurter Immobilienmakler, wird in seinen Geschäften von der Stadt, dem Polizeipräsidenten und dem Bürgermeister beschützt. Er wählt die Hure Roma B., weil er sie fürs Zuhören bezahlen kann. Durch die Auswahl von Roma B. entsteht Nachfrage an ihrer Begleitung, ihre Adresse wird in der höheren Gesellschaft gehandelt. Romas Zuhälter fühlt sich gedemütigt. Die Wahrheit tut weh, und Lügen helfen zu überleben.
Franz B. wendet sich dem eigenen Geschlecht zu und wird in einer Lederkneipe misshandelt: Hier findet er eine masochistische Form von Liebe. Die Figur Oscar von Leiden hebt Franz B. vom Boden auf und trägt ihn wie Christus das Kreuz von der Bühne.

Roma B. will sterben, sie sei nur noch ein Ding, ein Mittel, sie hat durch die Stadt jedes Selbstwertgefühl verloren. Musik könnte ihre ungestillte Sehnsucht noch kompensieren.  Doch Musik kann täuschen, daher verstummt die Musik mit Romas Tod, den ihr der reiche Jude erfüllt: er erwürgt sie. Der Mord auf Verlangen wird von den Stadtoberen vertuscht, die den Juden noch brauchen. Der wehrlose Franz B. wird an seiner statt beschuldigt.

Das Stück ist durchsetzt mit Musikstücken, oft aus der Operettenwelt, aber auch aus „La Traviata“: „Lied von der Stadt“ (nach „So oder so ist das Leben“ von Theo Mackeben), „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben“ (Fritzi Massaris Lied aus „Eine Frau die weiß was sie will. Manon“ von Oscar Strauss), „Davon geht die Welt nicht unter“ (von Michael Jary; Zarah Leander in „Die große Liebe“, 1942 von Rolf Hansen), „Ich bin nur ein armer Wandergesell“ (1921 „Der Vetter von Dingsd“ von Eduard Künneke), „Es muß was wunderbares sein, von dir geliebt zu werden.“ (aus „Im weißen Rössl“ von Ralph Benatzky von 1930), „Es steht ein Soldat am Wolgastrand“ (auch „Wolgalied“ für Richard Tauber aus Franz Lehárs „Der Zarewitsch“ von 1927)
Der Kontrast zwischen der vermeintlich heilen Welt der Operette und der Härte der dargestellten Handlungen reißt den Zuschauer aus der vermeintlichen Schönheit der Melodien.

Karlheinz Braun vom Verlag der Autoren berichtet, dass der Stoff auf einen tatsächlichen Frankfurter Spekulanten und Bordellbesitzer aus der frühesten Nachkriegszeit, und zwar nicht Ignaz Bubis, Bezug nimmt.